Läuft bei: Netflix (Mini-Serie, 7 Episoden à 30 Min.)
Eigentlich stand «Baby Reindeer» nicht oben auf meiner Watchlist. Aber als die Serie überall auftauchte und viel Lob erhielt, wurde ich neugierig. Ich hab eingeschaltet und es nicht bereut. Oder doch. Denn stimmungsmässig zieht einen die Geschichte von Donny (Richard Gadd) tief runter, sehr tief.
Dabei beginnt alles ziemlich harmlos. Donny arbeitet in einem Pub. Eines Tages kommt eine Frau herein. Sie scheint sehr bedrückt. Donny hat Mitleid. Ein Gefühl, das herablassend und arrogant sei, wie Donnys Off-Stimme bemerkt.
Eine nette Geste hat katastrophale Folgen
Die Frau setzt sich an den Tresen. Sie will nichts bestellen, weil sie es sich nicht leisten könne. Donny offeriert ihr einen Tee. Die Frau ist über die nette Geste erfreut, ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. Sie beginnt zu reden, wie ein Wasserfall. Sie lacht, laut und irritierend. Die Frau heisst Martha (Jessica Gunning). Sie wird Donny von jetzt an über Monate stalken.
Das tönt nicht wahnsinnig bedrohlich. Sicher, Dutzende E-Mails pro Tag sind mühsam. Auch, dass sie ihm vor der Haustür auflauert. Aber er ist schliesslich ein Mann und sie nur eine Frau. Da ist potenzielle Gefahr von Gewalt kaum ein Problem. Sieht auch die Polizei anfänglich so, an die sich Donny schliesslich wendet.
Aber Martha wird nicht nur gewalttätig, gegen Donny und dessen Freundin. Sie bedroht alle und jeden in Donnys Umfeld und zerstört sein normales Leben.
Es geht noch schlimmer
Wobei – normal? Da gibt es noch diese andere Geschichte in seinem Leben, die Donny in der vierten Episode erzählt. Er wurde massiv von einem Mann missbraucht, der ihm versprach, seine Karriere als Comedian voranzubringen. Donny dabei zuzusehen, wie er wieder und wieder zu diesem Mann zurückgeht, obwohl er genau weiss, was passieren wird, ist fast unerträglich.
Vor diesem Hintergrund beginnt man, einiges besser zu verstehen in Donnys Leben. Weshalb die Beziehung mit seiner Freundin in die Brüche ging. Warum er es nicht schafft, uneingeschränkt zu seiner Liebe zu Teri (Nava Mau), einer Transfrau, zu stehen.
Ist er wirklich nur Opfer?
Vor allem aber erscheint seine Beziehung zu Martha in einem anderen Licht. Ist er wirklich nur Opfer? Hält er Martha nicht auch ein wenig bei Laune, weil er die Aufmerksamkeit geniesst? Donny thematisiert diese Fragen selber in seinen Off-Kommentaren. Als Zuschauer:in würde man es vielleicht gar nicht wagen, sie zu stellen.
«Baby Reindeer» ist eine emotionale Achterbahnfahrt. Oder besser: ein Höllenritt. Denn am Schluss landet man wieder in so etwas wie Normalität, aber all die Dämonen, die man gesehen hat, lassen einen so schnell nicht los.
Extrem emotional, weil nicht erfunden
Richard Gadd, Autor und Hauptdarsteller, erzählt hier seine eigene Geschichte. Er hat sie bereits 2019 als Einmann-Bühnenstück inszeniert, bevor sie jetzt von Netflix als Serie produziert wurde. «Baby Reindeer» beruht also auf wahren Begebenheiten.
Das mag – neben der hervorragenden schauspielerischen Leistung des Casts – erklären, weshalb die Serie emotional so einfährt. Die Ereignisse, die manchmal zu surreal wirken, als dass sie wahr sein könnten, haben sich so zugetragen. Und Gadd kennt die Gefühle, die sein Protagonist dabei durchlebt, aus erster Hand und lässt uns tief in dessen Seele blicken.
Das Stalken geht weiter
Für Gadd war die Aufarbeitung seiner Lebenskrise auf der Bühne und jetzt am Bildschirm eine heilsame Therapie, wie er erzählt. Dass die Serie zum unerwarteten Grosserfolg wurde, hat allerdings unerwünschte Nebenwirkungen.
Ein Heer von Internetdetektiven und Boulevardjournalistinnen versucht seither herauszufinden, wer Martha und Gadds Peiniger im wirklichen Leben sind. Das Stalken geht weiter, auch wenn diesmal andere in dieser Hölle landen.
Besetzung: Richard Gadd | Jessica Gunning | Nava Mau | Nina Sosanya | Michael Wildman | Danny Kirrane | Shalom Brune-Franklin
Serie entwickelt von: Richard Gadd
Genre: Drama | Biografie | Komödie
GB, 2024
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