

Läuft bei: Netflix (Mini-Serie, 6 Episoden à 45 Min.)
Die neue deutsche Netflix-Serie «Liebes Kind» wurde ziemlich gehypt. «Krimi-Kammerspiel der Extraklasse» (Spiegel), «Nichts für schwache Nerven» (SRF Kultur), «Spannend und verstörend bis zum Schluss» (Stern) versprachen die Besprechungen.
Sehr gelungen, aber nicht überwältigend
Das führte einerseits dazu, dass ich die Serie auf die lange Bank schob, weil mir heftiger Psychohorror aufs Gemüt schlägt. Andererseits waren die Erwartungen sehr hoch, als ich es endlich wagte einzuschalten. Zu hoch, wie es scheint, denn am Ende war ich leicht enttäuscht.

Versteht mich nicht falsch: «Liebes Kind» ist sehr gelungen und verdient hohes Lob. Aber so wahnsinnig überwältigend, wie das vielfach zu lesen war, fand ich die Show dann doch nicht. Dafür geht die Serie zu wenig an die Grenzen des Zumutbaren und bleibt auf der sicheren Seite, zeigt das Grauen massentauglich.
Frau und Kinder im Bunker gefangen gehalten
Wer nicht weiss, worum es geht: Eine Frau im Nachthemd (Kim Riedle) wird auf einer Landstrasse angefahren. Ein 12-jähriges Mädchen (Naila Schuberth) ist bei ihr, als die Ambulanz eintrifft. Es stellt sich heraus, dass die beiden zusammen mit einem weiteren Kind in einer Bunkerwohnung festgehalten wurden.
Die wahren Geschichten hinter der Geschichte
«Liebes Kind» stützt sich zwar auf eine fiktionale Vorlage, auf den gleichnamigen Thriller der deutschen Schriftstellerin Romy Hausmann, der 2019 erschien und es auf Platz 1 in der Spiegel-Bestsellerliste schaffte.
Hausmann selber gab an, dass sie sich vom Fall Natascha Kampusch inspirieren liess. Die Österreicherin wurde 1998 als Zehnjährige in Wien entführt und über acht Jahre gefangen gehalten. Der Fall sorgte für weltweites Aufsehen unter anderem auch wegen massiver Kritik an den Ermittlungen.
Anklänge hat die Geschichte aber auch an den Fall Josef Fritzl. Der Österreicher hielt eine seiner Töchter über 24 Jahre in einer Kellerwohnung gefangen. Er vergewaltigte sie vielfach und zeugte mit ihr sieben Kinder.
Drei der Kinder adoptierte Fritzl. Er gab den Behörden an, seine Tochter, die zu einer Sekte geflohen sei, habe sie vor seiner Haustür deponiert. Eines der Kinder starb, die drei weiteren lebten die ganze Zeit mit ihrer Mutter in Gefangenschaft.
Der Polizist Gerd Bühling (Hans Löw) wird auf den Fall aufmerksam. Er untersuchte vor 13 Jahren das Verschwinden einer jungen Frau und hofft, dass es sich bei der Mutter um die entführte Lena Beck handelt.
Wer ist Papa und wo ist die wirkliche Mutter?
Diese Hoffnung zerschlägt sich schnell. Die Frau ist erst vor ein paar Monaten entführt worden, um als Mama für die Kinder zu sorgen. Die beiden Kinder sind allerdings tatsächlich die Kinder von Lena Beck, wie Gentests beweist. Sie haben ihr ganzes bisheriges Leben in diesem Bunker verbracht.

Bühling geht zusammen mit seiner Kollegin Aida Kurt (Haley Louise Jones) der Frage nach, wer der Entführer ist und was mit Lena Beck geschah.
«Liebes Kind» schildert die Suche nach dem Entführer und zeigt in Rückblenden das Leben der «Familie» in diesem Gefängnis. «Papa», der Entführer, hielt ein strenges Regime.
Die Gefangenschaft raubt die Seele
Wenn er den Raum betrat, mussten sich die Mutter und die Kinder in Reih und Glied stellen und die Hände zur Sauberkeitskontrolle ausstrecken. Toilettengang, Essens- und Schlafensszeiten waren strikt reglementiert. Wenn Papa etwas missfiel, gab es Schläge, meist für die Mutter, die deshalb immer vor Angst zittert, wenn er auftaucht.
Das Grauen dieses Lebens der Familie zeigt sich am eindrücklichsten am Verhalten der Tochter Hannah. Sie ist total konditioniert auf das, was Papa ihr beigebracht hat, und hat den absoluten Gehorsam verinnerlicht.

So behält sie auch nach ihrer Befreiung das Begrüssungsritual bei, dass sie ihre Hände zur Kontrolle ausstreckt. Hannah wirkt deshalb wie seelenlos und ist ziemlich furchteinflössend.
Risse in der Geschichte
Die Mutter Lena, die in Wirklichkeit Jasmin heisst, stürzt nach ihrer Befreiung in eine Depression. Sie schliesst sich in der Wohnung ein und ist nahe am Suizid. Was wenig erstaunt. Aber hier bekommt die Geschichte ihre ersten Risse. Das Grauen, das sie erlebt hat, wird nicht weiter vertieft, eine Therapiesitzung sagt sie ab.
Rätselhaft blieb mir auch, weshalb mehr beiläufig erzählt wird, dass der Polizist Bühling mit der Mutter der entführten Lena Beck eine Affäre hatte? Oder weshalb die Polizistin Kurt damit konfrontiert wird, dass ein Kollege schwer verwundet wird bei einem Einsatz, den sie angeordnet hat.

Ein Happy End mit Fragezeichen
Diese Geschichten sollen den Figuren wohl etwas mehr Tiefe geben. Weil sie aber nur angetönt werden, muss man sich selber zusammenreimen, was sie besagen sollen.
Der Showdown mit dem Entführer am Schluss hinterlässt auch leicht zwiespältige Gefühle. Einerseits ist es ein befriedigendes Happy End. Andererseits bleiben Zweifel, ob sich aus dem Grauen wirklich so schnell Hoffnung entwickeln kann.
Besetzung: Kim Riedle | Naila Schuberth | Sammy Schrein | Hans Löw | Haley Louise Jones | Justus von Dohnányi | Julika Jenkins | Birge Schade | Christian Beermann | Özgür Karadeniz | Jeanne Goursaud
Serie entwickelt von: Isabel Kleefeld | Julian Pörksen
Genre: Krimi | Drama | Mystery
D, 2023
Schreibe einen Kommentar