

Läuft bei: Apple TV+ (1 Staffel, 8 Episoden à 50 Min.)
Man muss schon mutig sein, um sich an eine Neuauflage von «Presumed Innocent» heranzuwagen. Nicht dass der Film von Alan J. Pakula von 1990 mit Harrison Ford und Bonnie Bedelia in den Hauptrollen ein unerreichbarer Klassiker wäre.
Aber das Gerichtsdrama bleibt einem in Erinnerung wegen der völlig überraschenden Wendung am Schluss, die letztlich das Besondere des Films ausmacht. Da muss man sich etwas einfallen lassen, um die Geschichte nicht einfach nochmal nachzubeten.

Der Spezialist für Gerichtsdramen
David E. Kelley hat sich das zugetraut. Nicht ohne Grund. Gerichtsdramen sind seine Spezialität. Er hat in seinem CV eine ganze Reihe davon vorzuweisen. Darunter «Goliath», eine hervorragende Serie mit Billy Bob Thornton als heruntergekommenem Anwalt Billy McBride, der sich in aussichtslosen Fällen mit übermächtigen Gegnern anlegt.
Auch «The Lincoln Lawyer», bereits mit zwei Staffeln auf Netflix, ist ganz unterhaltsam. Die Hauptfigur stammt aus den Romanen von Michael Connelly, der auch die geniale Harry-Bosch-Reihe geschrieben hat. Allerdings hat Kelley etwa mit «Anatomy of a Scandal» auch schon schlechte Ware abgeliefert.
Der Plot in Kürze
Die junge Staatsanwältin Carolyn Polhemus wird ermordet aufgefunden. Auf Drängen seines Chefs Raymond Horgan übernimmt Rusty Sabich den Fall. Was er dabei verschweigt: Carolyn war nicht nur seine Kollegin, sondern auch seine ehemalige Geliebte.
Horgan verliert die Wiederwahl in sein Amt. Der neue Bezirksstaatsanwalt entzieht Rusty den Fall und übergibt ihn an Tommy Molto, der eine tiefe Abneigung gegen Rusty hegt. Als die Affäre ans Tageslicht kommt, wird Rusty zum Hauptverdächtigen und schliesslich angeklagt.

Die Anklage und der Prozess wird nicht nur für Rusty, sondern für seine ganze Familie zur Zerreissprobe. Zwar wusste Rustys Frau Barbara von der Affäre. Rusty hatte ihr allerdings verschwiegen, dass die Beziehung wieder aufgeflammt war. Zudem muss er jetzt seinen Kindern gestehen, dass er fremdgegangen war.
Der Prozess wird zum grossen Showdown zwischen Rusty und Tommy Molto. Gleichzeitig werden neue Fakten zum Mord bekannt, die die Frage nach dem:r Täter:in neu aufrollen.
Jetzt also das Remake eines zweistündigen Films in gut 400 Serienminuten. Was die Neuauflage schon mal richtig macht: Die Hauptfiguren sind mit Jake Gyllenhaal, Ruth Negga und Peter Sarsgaard gut besetzt.
Bei Gyllenhaal als Staatsanwalt Rusty Sabich sträuben sich einem schon früh die Nackenhaare. Seine Persönlichkeit setzt sich zusammen aus einer ungesunden Mischung von manischen Schüben, Selbstmitleid und einem akuten Mangel an Sensibilität für die Menschen in seinem Umfeld.

Spannungsgeladene Beziehungen
Negga als Rustys Ehefrau Barbara kauft man ab, wie sie mit sich ringt nach dem Seitensprung ihres Mannes und sich nicht entscheiden kann, ob sie ihn verlassen will oder sich zumindest mit Rachesex etwas Genugtuung verschaffen soll.
Sarsgaard schliesslich als Rustys Gegenspieler im Gerichtssaal ist der perfekte Widerling. Ein Loser, der seine frisch gewonnene Machtposition ausnutzt und seine Rachegelüste mit einem hämischen Grinsen im Gesicht auslebt.
Es sind die stärksten Momente in «Presumed Innocent», wenn sich die Geschichte um diese drei Figuren und ihre spannungsgeladenen Beziehungen dreht.

Aber dann ist da ja noch der Mord und weiteres Personal wie Rustys Kinder, sein Boss und guter Freund und eine Reihe von möglichen Verdächtigen. Weil die Serie darauf zu viel Zeit verschwendet, schwächt das den Gesamteindruck.
Des Rätsels Lösung trübt den Spass
Besonders bemühend ist die Serie, wenn sie mit Nebelpetarden um sich wirft, um zu verschleiern, wer tatsächlich Rustys Kollegin und Geliebte Carolyn Polhemus (Renate Reinsve) getötet hat. Dass es – neben Rusty, dem man es durchaus auch zutraut – noch ein, zwei Alternativen braucht für dramatische Momente im Gerichtssaal, versteht sich. Aber das Drehbuch tischt uns eine Unmenge an möglichen Täter:innen auf, schlicht zu viele.
Wenn am Schluss die Lösung präsentiert wird, sitzt man da und kratzt sich am Kopf, wie konstruiert der ganze Fall ist. Das trübt den Spass doch ziemlich. Darüber droht vergessen zu gehen, dass «Presumed Innocent» bis kurz vor Schluss ein packendes, intensives Gerichtsdrama ist und mehr als nur das Remake eines 90er-Jahre-Films.
Überraschend: Apple TV+ bestellt zweite Staffel
Apple TV+ hat kurz vor Ende der ersten Staffel von «Presumed Innocent» angekündigt, dass eine weitere Staffel in Auftrag gegeben wird. Das überrascht, denn der Mordfall Polhemus wird in der ersten Staffel restlos aufgeklärt. Wie die Geschichte weitererzählt werden soll, scheint rätselhaft.
Die Antwort lautet wohl: Es wird keine Fortsetzung geben, sondern es wird ein neuer Fall aufgerollt. «Presumed Innocent» könnte damit zu einer Anthologie-Reihe werden, ähnlich wie «Fargo» oder «True Detective».
Als Fundus könnten die Romane von Scott Turow dienen, der die Vorlage für «Presumed Innocent» geschrieben hat. Ebenfalls wieder mit dabei sein werden David E. Kelley, J.J. Abrams und Jake Gyllenhaal als Produzenten. Ob Gyllenhaal auch vor der Kamera zu sehen sein wird, ist aber völlig offen.
Besetzung: Jake Gyllenhaal | Ruth Negga | Bill Camp | Chase Infiniti | Kingston Rumi Southwick | O-T Fagbenle | Peter Sarsgaard | Renate Reinsve | Elizabeth Marvel | Nana Mensah | Noma Dumezweni
Serie entwickelt von: David E. Kelley
Genre: Krimi | Drama | Mystery
USA, 2024
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